Officium | Der verlorene Horizont

  • Der Winter in Rom gestaltete dieser Tage sich überaus mild, bescherte der Stadt nur tristen Nieselregen, welcher seit dem Morgen bereits mehr oder minder ununterbrochen andauerte. Da Gracchus indes nirgends hin zu Fuß musste gehen tangierte die Wetterlage ihn nur mäßig, freute er sich gegenteilig über das himmlische Nass, welches er ob der zahllose Nuancen und vielschichtigen Klangerlebnisse als Witterung durchaus genoss, welches gleichwohl die Straßen üblicherweise nicht nur säuberte, sondern ebenso das lärmende und geschäftige Leben der Menschen daraus wenn auch nicht gänzlich vertrieb, so doch zumindest ein wenig lähmte. Seine eigenen Pflichten diesen Tages waren bereits abgeschlossen, so dass ein wenig Zeit bis zur abendlichen Cena ihm noch blieb für etwas Muße, wenn auch seine gegenwärtige Muße ihm stets ein wenig Mühe bereitete, da er noch immer die schönste Literatur nur quälend langsam zu lesen befähigt war, mit einem Lineal pro Zeile zudem, welches Sätze und Abschnitte unnachgiebig zerriss. Dennoch war das Hinabtauchen in ihm unbekannte Schriften - Epen und Lyrik insbesondere - noch immer eine der größten Wonnen, welche die Welt ihm ließ zuteilwerden, welche einige kostbare Momente ihn sein eigenes Leben vergessen, seine eigene Person verdrängen ließen. Ein wenig verärgert hob er darob den Blick als sein Vilicus ohne anzuklopfen das Officium betrat, tadelte ihn indes nicht, da er genau wusste, dass Sciurus dies nur tat, sofern es wirklich wichtiges zu berichten oder tun gab. Auch der Sklave war dessen sich bewusst, so dass er ohne Umschweife sprach.
    "Es ist eine Nachricht angelangt, Herr, aus Patavium."
    "Patavium?"
    repetierte Gracchus ein wenig ahnungslos, da diese Gegend ihm augenscheinlich von Bedeutung sollte sein, es jedoch gegenwärtig nicht war.
    "Eine Nachricht von dem Landgut deiner Gemahlin."
    "Patavium, natürlich. Was beri'htet Antonia, befinden sie und Flamma sich wohl? Erwähnt sie, wann sie nach Rom zurückkehren wird?"
    Die ersten Frühlingsboten zeichneten immerhin sich bereits ab, so dass die Witterung die Claudia kaum wohl noch sonderlich lange würde von dieser Reise abhalten können, indes war Gracchus nicht sich gewiss, ob dies tatsächlich der Grund war, weshalb sie derart lange im Norden des Landes war verblieben. Sciurus zögerte einen Augenblick - zu lange für sein übliches Gebaren, doch zu kurz, als dass dem Flavier dies wäre aufgefallen.
    "Es ist eine Nachricht des Verwalters."
    Die Couleur Sciurus' stimme war ruhig, scharf wie die Klinge einer Sica, und doch schwang eine Nuance in ihr mit, welche der Sklave selbst - so er sie jemals hätte eingestanden - wohl als einen Hauch von Anspannung hätte deklariert.
    "Deiner Tochter geht es gut, doch deine Gemahlin laborierte bereits seit Wochen an einem Fieber."
    Eine eisige Kälte stieg Gracchus' Rückgrat hinauf und er glaubte das Schaben der klauenbewehrten Finger der Strigae an seinem Hinterkopf zu vernehmen.
    "Laborierte?"
    keuchte er tonlos und alle Farbe wich aus seinem Antlitz, ebenso wie er glaubte dass alle Wärme aus seinem Leib musste weichen. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl.
    "Nein"
    , flüsterte er leise und trat um den Schreibtisch herum, Sciurus' Blick fixiert, in welchem ein eigentümlicher, unmissverständlicher Ausdruck lag, welcher Gracchus regelrecht die Kehle abschnürte.
    "Wage es nicht, … wage … es … nicht ..."
    , drohte er dem Sklaven, ohne aussprechen zu können, was er fürchtete.
    "Sie ist vor drei Tagen dem Fieber erlegen, Herr"
    , fuhr Sciurus ungerührt fort, denn die Wahrheit konnte nicht sich verbergen lassen. Als hätten sie nur auf diesen Augenblicke gewartet, stießen die Strigae in lautem Johlen und Jubeln ihre Klauen in Gracchus' Herz, zerrissen seinen Leib, zerfetzten seinen Geist.
    "Nein"
    , entfuhr es ihm noch einmal als könne er die Realität einzig durch seine Dementi verändern, sodann trat er auf seine Vilicus zu, packte ihn bei der Tunika und schüttelte ihn.
    "Nimm es zurück! Nimm es zurück!"
    brüllte er den Sklaven an, doch Sciurus fasste nur seine Unterarme und hielt ihn fest, blickte starr in die Miene seines Herrn. Mit einem Ruck, einem kurzen Aufbäumen nur, befreite Gracchus sich aus diesem Griff, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und sank unter der Last dieser Schreckensmeldung in sich zusammen, auf die Knie zuerst, ehedem sein Oberkörper sich dem Boden entgegen neigte.
    "Nein ... nein … nicht ... nicht Antonia ... nicht … Antonia …"
    Als seine Stirn den rauen Boden berührte bebte Gracchus' Leib, zitterte vor Furcht, vor Entsetzen, vor Kummer und Wut - und auch als Sciurus seine Hände um seine Schultern legte, konnte er nicht einhalten, seiner Trauer um die beste Ehefrau, welche das Imperium Romanum jemals hatte erlebt, in diesem stillen Augenblicke Ausdruck zu verleihen.

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  • Geraume Zeit später war nur Stille geblieben in dem Officium, dessen Besitzer noch immer in der Mitte des Raumes in sich zusammengesunken kauerte, bewacht und beschirmt durch seinen Vilicus, überzeugt davon, dass die Welt nichts mehr an Gutem barg, nachdem sie nun auch noch Antonia ihm hatte entrissen. Es war nicht die reine Form der Liebe gewesen, welche sie hatte verbunden, doch über die Jahre hinweg war es zweifelsohne eine ganz eigene Form der Liebe geworden, der Respekt einander gegenüber, die Wertschätzung der Beständigkeit, und nicht zuletzt - von ihm ausgehend - die Bewunderung ihrer Perfektion. Claudia Antonia hatte Gracchus' Leben einen Halt, eine Konstante gegeben, welchen nichts und niemand sonst ihm konnte bieten, sie war der Anker gewesen, welcher ihn in jenem Leben, welches zu leben ihm bestimmt war, hatte fixiert, sie war das Band gewesen, welches in der Realität ihn hatte zentriert, das Fundament, welches seine Familie hatte getragen. Und nun sollte alles dies fort sein, entschwunden in einem Augenblick, verloren für immer.
    "Und … wenn es nur ein Trug war, eine Schwindelei durch … durch jemanden, der uns Schaden will zufügen?"
    fand Gracchus schlussendlich zu seinen Gedanken zurück, gewillt jede noch so unglaubwürdige Erklärung anzunehmen.
    "Es ist kein Trug, Herr, ich kenne den Boten. Ein Libitinarius aus Patavium hat ihren Leichnam präpariert, so dass er noch am gleichen Tag wie der Bote starten konnte und somit morgen Abend oder spätestens in zwei Tagen in Rom sein wird."
    Nüchterne Fakten waren alles, was der Sklave kannte, was gleichsam Gracchus ließ verzweifeln, ihn den Kopf ließ schütteln als könne er die Realität damit schlichtweg verneinen.
    "Ich … hätte sie längst nach Rom zurückholen müssen. Ich hätte für ihr Wohl Sorge tragen müssen …"
    Beständig geschahen diese Dinge, welche er nicht konnte verhindern, welche an seinem Leben vorbeizogen, ohne dass er sie konnte greifen, ohne dass er sie konnte wandeln - als würde sein eigenes Leben auf einer anderen Spur laufen als das aller anderer, abgekoppelt von dem Verlauf der Zeit, in einer anderen Dimension verhaftet -, welche unabänderlich durch das Schicksal schienen festgeschrieben, ihm beständig durch die Finger rannen, eins ums andere, verfasst von einem Geschichtenerzähler, welcher seine Freude daran zu haben schien, ihn von einer Misere in die nächste zu stürzen, für den allfällig dieses Leben nicht einmal Priorität hatte, nicht mehr als bloße Zerstreuung war.
    "Nein!"
    keuchte Gracchus mit einem Male als ein anderer Gedanke ihm zu Sinnen kam, fasste den Sklaven bei den Schultern, sein Antlitz von Grauen überzogen.
    "Die … divi parentes! Die Parentalia! Sie ist während der Parentalia ver..storben!"
    Seine Stimme überschlug sich beinahe und neuerlich durchzog ein Zittern der Furcht seinen gesamten Leib.
    "Sie … haben sie geholt! Meinetwegen! Meinet..wegen ..."
    Er konnte ihr boshaftes Lachen hören, weit in der Ferne, weit fort in Patavium, um das Bett seiner Gemahlin versammelt, deren Leben sie aus ihrem Körper hinaus zerrten, Stück um Stück, eins ums andere, immerfort, bis dass nurmehr eine Leere Hülle war geblieben. Er hatte es immer befürchtet - sobald er begonnen hatte, ihr mehr entgegen zu bringen als bloßes Einvernehmen, war Antonias Leben verwirkt, war es verloren an die rachsüchtigen Larven, welche beständig nach allen Menschen gierten, die ihm teuer waren, welche unentwegt ihren Tribut einforderten bis an sein Lebensende.
    "Es wird nie ein Ende nehmen … niemals … nur ... nur wenn ich ..."
    Die Konklusion war so simpel, wie erschreckend.
    "Du musst an die Zukunft denken, Herr, an deine Söhne und deine Tochter"
    , gemahnte Sciurus seinen Herrn, brachte ihn ab von der Konklusion, evozierte dabei indes gänzlich andere Überlegungen in Gracchus als beabsichtigt. In Hinblick auf Titus bestand kaum wohl Gefahr, war der Junge doch längst an die Untergründigen verloren, lastete der Fluch seines Vaters doch seit seiner Geburt bereits auf seinem Genius. Flamma wiederum war behütet durch die Tatsache, dass sie Gracchus gänzlich fremd war, dass er ihr wenig mehr nur entgegen brachte als mäßiges Interesse an ihrem Werden und Gedeihen. Minor indes war sein Stolz, sein Erbe, die Perfektion all dessen, was er niemals hatte sein, hatte werden können - und sofern es ein Sentiment der väterlichen Liebe in ihm gab, so gehörte es zweifelsohne seinem Ältesten. Es musste dies ein Ende finden.
    "Geh und ... hole Minimus."
    Nachdem der Sklave den Raum hatte verlassen, zog Gracchus sich umständlich an dem Schreibtisch empor, rieb sich die Schläfen und trat schlussendlich an das Fenster hin, hinaus in den trüben, verregneten Nachmittag zu blicken. Er hatte diesen Tag so lange bereits gefürchtet, doch letztendlich fehlte ihm schlichtweg der Elan, noch tiefer zu sinken. Er fühlte sich müde und leer, einmal mehr in seinem Leben unfähig eben jenes zu meistern, einmal mehr unfähig zu bewahren, was ihm wichtig war. Allfällig war es an der Zeit jede Reue abzulegen und anzuerkennen, dass sein Leben nur ein Irrtum des Schicksals war gewesen, welches beständig um ihn her sich suchte auszugleichen, und endlich diese Disharmonie abzugelten.

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  • Schon seit seinen infantilsten Tagen verspürte der junge Flavius dem blassen Villicus seines Genitoren gegenüber ein gewisses Unwohlsein, welches mancher Tage geradezu in einer Furcht sich entlud, zumeist indessen zumindest eine gewisse Bange evozierte. Am diesem Abend freilich war diese Regung durch jene Bedeutsfülle, die das Timbre in der Stimme des Sklaven implizierte, noch weiter aggraviert worden, da doch dessen Erscheinen für gewöhnlich einen dringlichen Umstand vermuten ließ, welcher zweifelsohne mit einem Fehltritt Manius Minors und der daraus resultierenden zu erwartenden Schelte Manius Maiors zu konnektieren war, was einem Reflex gleich in dem jungen Flavius Scham und Culpabilisation erzeugte.


    Einem Todgeweihten gleich, welcher den Sand der Arena betrat, öffnete er somit durchaus furchtsam die Tür des Officium, gefolgt von Sciurius, und erblickte den Löwen in Persona der aufrechten Gestalt seines Vaters vor dem hellen Lichte des Fensters, welche indessen, kaum hatte er sich weiter approximiert, zu jenem vertrauten Schemen sich wandelte, der lediglich durch seine Hexis wie die Stimme zweifelsfrei dem eigenen Vater zu attribuieren war.
    "Vater?"
    , entsandte er ein zaghaftes Signal seiner nunmehrigen Präsenz, ein vollkommenes Abbild der Penitenz offerierend, noch ehe das Verdikt gesprochen war. Dennoch erwartete er eben jenes einem Lamme vor der Schlachtbank gleich, das Haupt leicht geneigt, den Blick jenen Mosaiken zuwendend, welche ihre Muster seit Jahren ihm nicht mehr offenbarten, und spintisierend über den Anlass jener Vorladung, die womöglich mit einer Kritik des Rhetoren bezüglich seines Fleißes und Scharfsinnes, womöglich einer Klage der Sklaven bezüglich eines Fehltrittes seines geliebten Patrokolos oder einer Unachtsamkeit seiner selbst gegenüber einer Person von gewisser Gravität erklärlich erscheinen mochte.

  • Gedankenverloren betrachtete Gracchus das Spiel des Windes, welcher die kahlen Zweige des Mandelbaumes vor dem Fenster sanft wiegte, sann über eine Zukunft ohne Antonia nach, um nicht allzu detailliert mit der Gegenwart sich beschäftigen zu müssen. Er würde eine Entscheidung treffen müssen bezüglich Flamma, war Rom doch kaum der geeignete Ort für das Mädchen aufzuwachsen, wiewohl die Vestalinnen keine Zukunft mehr für sie boten, nun da Cornelius Palma die Obhut über jene inne hatte. Das Vermögen musste ebenfalls verwaltet werden, ebenso wie all die anderen Dinge des Haushaltes, über welche die Claudia stets hatte gewacht. Unwillkürlich drifteten seine Gedanken in eine weitere Richtung, welche er gerade in diesem Augenblicke nicht wollte wahrhaben, als die Türe hinter ihm sich öffnete, was ihn unmerklich ließ ein wenig zusammen zucken. Tief atmete Gracchus ein und aus, nachdem Minor sich leise bemerkbar gemacht hatte, drehte sodann sich langsam um, ausdruckslos seine Miene, ein wenig blass und leer augenscheinlich, obgleich dies für Minor wohl nicht zu erblicken war.
    "Minimus"
    , titulierte er seinen Sohn und ließ dem eine bedeutungsvolle Pause folgen, noch immer ohne zu wissen, welche Worte er sollte wählen. Kurz sog er seine Unterlippe zwischen die Zähne, fühlte sich ein wenig als würde er vor dem Senat um Stimmen bitten, gemahnte sich doch schlussendlich, schlichtweg die Wahrheit in all ihrer Nüchternheit auszusprechen.
    "Deine Mutter ist tot."
    Bereits mit dem letzten Wort reute ihn die Kühle dieser Aussage, wollte er zu seinem Sohn treten und in einer väterlichen, einfühlenden Umarmung ihm Trost spenden, doch zwang er sich weiterhin Abstand von Minor zu halten. Er würde ihnen keinen Grund geben, Minor ihm entreißen zu wollen.
    "Sie ist vor drei Tagen einem Fieber erlegen"
    , wiederholte er die Worte seines Vilicus beinahe ebenso nüchtern und kalt wie dieser, wenngleich er nicht gänzlich den Gram aus seiner Stimme konnte verbergen.

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  • Das Zucken seines Vaters mitnichten bemerkend intensivierte sich die Anspannung in dem Knaben, während jener sich umwandten und ihn letztlich mit dem wohlvertrauten Kosenamen titulierte, welcher schon so lange ihm lästig war, obschon er in jener augenscheinlich gewichtigen Situiertheit selbstredend davon absah Protest anzumelden. Ein wenig schien er noch in sich zusammenzusinken, ehe unvermittelt sich der Anlass der Vorladung in einer inprädikablen Geschwindigkeit entlud und in seiner Extremität dem Knaben keineswegs realistisch erschien, vielmehr ihm die Frage aufbürdete, ob ihn nicht nur sein Seh-, sondern auch sein Hörvermögen verlassen und ihm eine grausige Gaukelei vorgespielt hatte, zumal die Worte doch recht inemotional sich ihm darboten. Indessen folgte direkt eine erläuternde Deklaration, welche recht klar und deutlich zumindest das Gehörte verifizierte, sofern es sich beim Subjekt jenes Satzes nicht um eine similär klingende Person femininen Geschlechts handelte, was indessen recht irrealistisch sich darbot.


    Und doch musste eben jener Fall eingetreten sein, denn wie sollte dies wahr sich erweisen, was keinesfalls als wahr sich erweisen durfte? Binnen Augenschlages meldeten sich ihm Remineszenzen an jenen grässlichen Traum, welcher ihn vor Wochen gequält hatte, an das leblose Antlitz seines geliebten Mutter, doch zugleich die kalmierenden Worte Patrokolos', seine Versicherungen, es habe sich lediglich um missgünstige Trugbilder gehandelt, seinen Vorschlag, die Claudia neuerlich zu kontaktieren, um ihr Wohlbefinden zu verifizieren. Deplorablerweise hatte er indessen eben letzteres versäumt, war im Trubel der Saturnalien differenten Dingen zugewandt gewesen, war gar jenes üblen Traumes verlustig gegangen, sondern hatte sich im Folgenden in seine rhetorischen Studien und die Lustbarkeiten des Alltags gestürzt. Doch hatte Patrokolos ihm doch glaubhaft versichert, seine Mutter sei wohlauf! Es musste sich um einen grausamen Scherz handeln, eine fragwürdige Probe, selbst wenn dies keinesfalls dem Usus seines Genitoren entsprach!
    "Nein!"
    , widersprach Manius Minor somit similär zu Manius Maior, als jener die Hiobsbotschaft erhalten hatte, um sich nun doch in für den Älteren zweifellos unverständliche Weise zu differenzieren:
    "Patrokolos sagte-"
    , was ihm indessen rasch bewusst wurde, weshalb er den Satz unvollendet ließ, um einen neuerlichen Versuch zu wagen, nun weitaus verhaltener, da sich ihm doch, obschon er keineswegs Bereitschaft zeigte, jene fatale Faktizität zu akzeptieren, eine böse Ahnung ihrer Wahrhaftigkeit entfaltete:
    "Mama kann doch nicht tot sein! Sie war doch stets... wohlauf!"
    Flehentlich blickte der Knabe hinauf zu seinem Vater in der Hoffnung, er mochte jene Tortur beenden und ihm mitteilen, dass es sich hierbei um einen überaus späten Saturnalienstreich handelte, dass es eine Probe war, welcher er zu bestehen versagt hatte, die nun aber dennoch abgebrochen würde, dass er sich schlichtweg verhört hatte und es sich bei dem Verstorbenen um eine Katze oder eine Sklavin, womöglich seine greise Amme handelte.

  • Vom ersten Tage seines Lebens bis hin zu seiner offiziellen Mannwerdung hatte stets Antonia sich um die Sorgen und Nöte Minors gekümmert, ihm Trost und Wärme gespendet, während Gracchus selbst zumeist nur Pflichten und Lektionen, Mahnungen und Erklärungen, ab und an die Vorzüge und Freuden flavischen Lebens an seinen Sohn hatte weiterzugeben. Als der Junge - welcher in diesem Augenblicke viel mehr dem Kind glich, welches er war, als einem Manne, welcher er hatte zu sein - nun indes ihn mit flehentlichem Blicke taxierte, bröckelte jene Mauer bereits wieder, welche der Vater sich hatte vorgenommen zum Schutz seines Sohnes zwischen ihnen zu errichten. Vorsichtig trat er einen Schritt auf Minor zu - als könne allein die Nähe zwischen ihnen die Larven bereits dazu animieren, auch seinen Sohn ihm auf der Stelle hinwegzureißen - und legte eine Hand auf seine Schulter.
    "Der Tod kennt keine Zeit, Minimus - was heute noch voller Lebendigkeit ist, mag morgen bereits ver..gangen sein. Dies ist ... schlichtweg Teil unserer Existenz."
    Das Leben war zu allen Zeiten voller Tod, auch Minor hatte bereits von einigen Verwandten Abschied nehmen müssen, doch Gracchus wusste, dass der Tod eines geliebten, vertrauten Menschen stets different war, eine tiefe Wunde riss, welche lange Zeit noch würde schmerzen. Und obgleich er selbst viele Tode hatte erlebt, zu viele bisweilen, zu viele Abschiede hatte nehmen müssen, fand Gracchus auch nach all den Jahren keine Worte, welche Trost spendeten, welche erträglicher machten, was bisweilen nicht zu ertragen war. Eine endlose Leere erfüllte sein Innerstes, eine devastierte Ödnis, welche selbst all die schönen Lügen bedeckte, all die hohlen Worte über den Tod und die Zeit, welche zur Bestattungsfeierlichkeit noch zur Genüge würden verteilt werden. Zudem war er all der Lügen Leid, selbst so die Wahrheit schmerzlich war.
    "Ihre Iuno wird immer über dich wa'hen, Minimus, doch sie selbst wird nie wieder bei uns sein."

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  • Die Tortur war zur Fortsetzung verdammt und langsam, doch stetig, bohrte sich in den Geist des Knaben die Gewissheit, dass das Gesagte keinesfalls ein plumper Scherz, sondern vielmehr eine unumstößliche Faktizität darstellte, welcher er ebensowenig entrinnen konnte wie dem Sonnenuntergang, zumal ja gar seine Träume ihm dies bereits vor geraumer Zeit offenbart hatten. Denn in der Tat gehörte Gevatter Tod auch für den jungen Flavius zu seinen beständigen Begleitern, wenn auch zu seinen nocturnen und in abhorreszierender Gestalt. Mitnichten mochten somit die Plattitüden Manius Maiors ihm Satisfaktion bescheren oder den Schmerz, der sich nun die Bahn brach, mildern, sodass Tränen des ohnmächtigen Laborierens in seine Augen traten, während vor seinem geistigen, keineswegs fehlsichtigen Auge neuerlich die leblose Gestalt seines Traumes sich in ihrem Tunnel von ihm entfernte und die Hand zum Gruße hob.


    Manius Minor senkte das Haupt, um seine heftigen Regungen zu verbergen, doch präsentierte sich dies selbstredend als ein aussichtloses Unterfangen, sodass er letztlich in ein offen Schluchzen verfiel und, kaum hatte Manius Maior die ewige Absenz seiner geliebten Mutter nochmals verbal bestärkt, bereits erste Tränen seine Wangen passierten und sich an der im Falle des Knaben recht rundlichen Kante der Wange sammelten, um genährt durch zahlreiche weitere Exemplare ihrer Art, in dicken, schweren Tropfen sich dem Mosaikboden zuzuwenden. Obschon die Hand seines Genitoren auf ihm ruhte, vermochte er sich keineswegs kontrollieren, sodass seine Schultern unter seinem Seufzen und Wimmern zuckten, ehe er, einem Reflex folgend, doch die sich ihm darbietende Offerte parentaler Nähe in Anspruch nahm und sein Gesicht an der Brust des Vaters vergrub, die Arme um seine Taille schlingend, und seinen Emotionen freien Lauf ließ. Vergessen schien für diesen Moment seine prinzipielle Abneigung gegen Manius Maior, seine Desillusion nach dem Bürgerkrieg, die hunderte Male theoretisch konstruierten Invektiven gegen dessen Feigheit und Unwürde, denn lediglich Leere und Schmerz regierten nun im Geiste des Knaben, welcher entsprechend jedwede Potentialität der Zuneigung gierig in sich aufsog, zumal er durchaus nicht sämtlicher Neigung zu seinem alten Herren verlustig gegangen war, er vielmehr, wenn auch unbewusst, stets die seit frühesten Kindestagen entwickelte übergroße Ehrfurcht und pietätvolle Liebe in ihm widerstritt gegen die Novität einer gänzlichen Ablehnung, die doch nun, da kein weiterer Familiare wohl jenen Schmerz zu teilen imstande war, zu überwinden war im eigenen Interesse.

  • Ob der ihn umfassenden Leere und Taubheit in seinem Inneren war Gracchus augenblicklich überfordert mit der Heftigkeit Minors Emotionalität, dem Sturzbach an Tränen und der ungewohnten Nähe, war machtlos dem ausgeliefert und gleichsam angerührt, dass er seine Hände kalmierend auf den Rücken seines Sohnes legte, indes noch immer nichts zu sagen wusste, da es doch keine Worte gab, welche diesen Schmerz konnten lindern. Er wusste nicht, wie lange dies andauerte, wie lange die innige Familiarität sie umfangen hielt, doch intermittierte er nicht, ließ nur geschehen, was geschah, und erst als das Schluchzen ein wenig versiegt war, wagte er das Schweigen zu durchbrechen.
    "Der ..."
    Ein wenig fürchtete Gracchus sich vor dem Begriff Leichnam, schien er ihm doch allzu unumstößlich und endgültig.
    "... Leib deiner Mutter befindet sich bereits auf dem Weg nach Rom, so dass wir uns gebührend von ihr ver..abschieden können."
    Der Gedanke an diesen Tag evozierte in ihm ein Übermaß an Furcht, denn mit dem toten Körper würde unumstößlich auch der Geist der Claudia in Rom, in dieses Hause einziehen, doch suchte er dieser Empfindung keinerlei Ausdruck einzuräumen, um Minor nicht mehr noch zu beängstigen.
    "Deine Schwester - Flamma"
    , ein wenig klang dies danach als würde Minor nicht wissen können, wer seine Schwester war, vergaß Gracchus selbst doch bisweilen beinahe darauf, dass sie seine Tochter war, ob dessen er ebenso unsicher war, ob dies für seinen Sohn einen Trost würde bieten, war jedoch geneigt, den Versuch zu wagen.
    "Sie wird sich ebenfalls einfinden."

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  • Ein beachtliche Zeitspanne verweilte der Knabe schluchzend und Tränen verströmend an der Brust seines Vaters, ehe seine Qualen ob jener gänzlich inkomprehensiblen Umstände insofern Milderung erfuhren, dass er imstande sich fühlte seine Contenance zumindest in einem gewissen Maße zurückzuerlangen und die heftigsten Regungen zu kontrollieren.


    Sein Vater schien indessen schon seit geraumer Zeit jene Kontrolle über sein Selbst zurückerlangt zu haben, denn schon wandte er sich den Formalitäten zu, welche nun drängten, was den jungen Flavius seiner womöglich unanständigen emotionalen Offenheit gewahr werden ließ und ihn nötigte, die parentale Umarmung zu lösen und wieder in einiger Distanz Aufstellung zu nehmen, die verweinten Augen auf das verschwommene Antlitz Manius Maiors gerichtet und der Dinge harrend, welche ihm nunmehr entgegentreten würde.


    Als Flammas Erscheinen verkündet war, fühlte Manius Minor selbst sich genötigt, einen Kommentar zu geben, doch mochte ihm augenblicklich nichts in den Sinn zu kommen, da doch die Leere in seinem Geiste noch zu erdrückend war um rationale Überlegungen anzustellen. Erst nach einigen Augenschlägen, welche sich wie Stunden hinzuziehen schienen, memorierte der Knabe die Erwartungen seiner geliebten... und nunmehr inexistenten Mutter, die zweifelsohne von ihrem Erstgeborenen erwartet hätte, dass er seinem Vater, so sehr dieser auch ohne jede Emotion ihr Ableben akzeptierte, jedwede Unterstützung zusicherte, um jene deplorable Pflichtigkeit zu leisten.
    "Kann... ich dir irgendwie behilflich sein?"
    , brachte er somit mit einiger Beschwerlichkeit hervor, um sogleich das sich durch das Vergießen der Tränen angesammelte Nasensekret recht deutlich hörbar hinaufzuziehen.

  • Beinahe war Gracchus gewillt die Frage abzuschmettern mit dem Hinweis, dass ihm nicht mehr zu helfen war, doch zweifelsohne zielten Minors Gedanken in gänzlich andere Richtungen als die seinen. Er sann kurz nach, schüttelte schlussendlich den Kopf.
    "Dies ist nicht vonnöten, es ... bliebt uns ohnehin nichts zu tun als die kommenden Tage aus..zuharren."
    Sciurus würde letztlich dafür Sorge tragen, dass ein Libitinarius informiert, instruiert und Klageweiber engagiert wurden, dass für den Tag der Bestattung alles würde bereitet - von der Aufbahrung bis hin zum anschließenden Leichenmahl -, und dass Benachrichtigungen wurden versendet - er selbst würde darunter allfällig noch seinen Namen und das flavische Siegel setzen. Für die Gracchen - alle drei - blieben somit nur zwei endlose Tage, in welchen sie sich ihrer Trauer und Gedanken würden hingeben können, denn obgleich Antonia nicht im Hause war verstorben und sie somit noch nicht mit der Unreinheit des Todes in Berührung waren gekommen, würden sie dennoch keiner alltäglichen Pflicht mehr nachgehen, das Haus vermutlich nicht verlassen.
    "Allfällig kannst du später einmal nach deinem Bruder sehen, ihn werde ich nach dir ebenfalls in Kenntnis setzen."

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  • Obschon der Knabe selbst in tiefstem Schmerz verharrte, stieß die Remineszenz an seinen noch jüngeren Bruder, welcher doch zweifelsohne in weitaus größerer Dependenz von seiner Mutter noch lebte und somit ein similär größeres Maß an Leid verspüren mochte, eine Compassion hervor, die sein eigenes Laborieren vorerst in den Hintergrund treten ließ und ihn vielmehr nötigte, sich als jener Pfeiler zu sehen, welcher nunmehr noch größere Verantwortung für seinen Bruder zu tragen haben würde, da doch ihrer beider parentaler Überrest bisweilen sich als recht defizitär erwies betreffs der Konvergenz von Wort und Tat und das maternale Korrektiv sich nun verabsentiert hatte.
    "Ja, Vater."
    , replizierte er somit, obschon ihn die Imagination, Titus gleich seiner geliebten Mutter in die Arme zu schließen, doch recht infamiliär erscheinen mochte, da dies einem Jüngling seines Alters doch recht inadäquat war, während zugleich doch die Necessität sich nicht leugnen ließ, da sein Bruder nun doch auch einer Person bedurfte, welche ihm die maternale Geborgenheit bot, gerade im Augenblick da jene ihm verlustig gegangen war. Jener Verlust, den ja auch er selbst teilte, war es auch, welcher neue, bittere Tränen evozierte, die ihrerseits ein anfängliches Blinzeln, dann ein verschämtes Augenwischen hervorbrachten, da doch Manius Minor nun und angesichts jener vor ihm liegenden Obliegenheiten mehr denn je bemüht war, die Selbstkontrolle seiner Regungen gleich Manius Maior zu perfektionieren.


    Nochmalig schniefend verharrte er so vor seinem Vater, unschlüssig, welche Maßnahmen nun zu ergreifen seien, ob die Pietät ein weiteres Verharren verlangte oder er doch ihnen beiden am besten tat, wenn er sich hinfortflüchtete, um seinen Schmerz mit Patrokolos zu teilen, welcher ihm doch so viel vertrauter schien denn der Scheme vor seinen Augen, obschon dieser doch sein ganzes Leben ihn geleitet hatte, jener erst vor einem Jahr in sein Leben getreten war.

  • Einige Augenblicke zögerte Gracchus ob der neuerlichen Tränen seines Sohnes, entschied indes dies nicht weiter zu thematisieren. Ein Flavius heult nicht! mochte seinem eigenen Vater zu zahllosen Gelegenheiten durchaus begründet erschienen sein, doch welch trauriges Leben würde dies gewesen sein, welches nicht an seinem Ende mit unzähligen Tränen würde beweint werden? Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Claudia Antonia dies hatte verdient, nicht nur, doch insbesondere auch von Seiten ihrer Kinder. Da Minor sonstig nichts weiter zu sagen hatte, wollte Gracchus ihn nicht länger durch seine Gegenwart zur Wahrung der Contenance zwingen.
    "Gut, dann werde ich nun auch ihn informieren."
    Ein Blick zu Sciurus hin reichte aus, dass dieser mit Minor den Raum würde verlassen und mit Titus zurückkehren.
    "Über all jene Dinge, welche ob der Ge..gebenheiten sich nun ändern mögen, können wir ein ander mal sprechen."
    Allzu viel würde dies für Minor letztlich ohnehin nicht sein.

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  • Ohne Widerstand ließ der junge Flavius sich hinausgeleiten, da ihm doch hier bereits ein Übermaß an Anteilnahme entgegengebracht worden war, während auf weiteres nun nicht mehr zu hoffen war, sodass nun Patrokolos an der Reihe sein mochte, das Leid des Knaben zu teilen.


    "Ja, Vater."
    , replizierte er somit lediglich und spürte auch schon Sciurius' Hand auf der Schulter, welche ihn durch die Tür und zu seinem Zimmer bugsierte.

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